Absolute Wahrheit und traumatische Zange
Spirituelle Sackgassen für traumatisierte Menschen
Fast jeder spirituelle Sucher, mit dem ich rede berichtet mir, dass er auf dem Weg nicht das findet und erreicht oder erreicht hat, was er sich erhofft hat. Ich sehe fast immer große Verzweiflung, Ratlosigkeit und Unverständnis darüber, warum es nicht zu einer Verbesserung kommt, warum das Leiden nicht weniger wird, warum ich meine Situation weder einordnen, noch verstehen oder sogar ändern kann.
Es ist für mich wirklich kaum noch auszuhalten, wenn ich Aussagen von Lehrern höre, die das Elend immer weiter zementieren. Offensichtlich muss es immer und immer wieder gesagt werden. In dem Beitrag formuliere ich es so:
Das, was an höchsten spirituellen Aussagen speziell aus dem Advaita und der Non-Dualität kommt, ist eigentlich die Beschreibung der traumatischen Zange. Das sind dieselben Aussagen und das kann ich ganz einfach darlegen. Ich habe dafür ein paar Zitate und Formulierungen ausgesucht, die wir der Reihe nach durchgehen. Das sind Aussagen von spirituellen Lehrern, spirituelle Konzepte aus dem Bereich der Non-Dualität oder höchsten Wahrheit. Aussagen womit ich konfrontiert werde.
Aussage 1: „Du gehörst nicht dazu“
Was wird da eigentlich ausgesagt und vermittelt? Es kann ja sein, dass diese Aussage aus dem Raum der Wahrheit kommt und, dass es auf einer bestimmten Ebene wahr ist. Doch was macht eine solche Aussage mit den Menschen? Mit jenen, die noch nicht in dieser Wahrheit leben? Es kappt die Hauptressource! Eine solche Aussage kappt den Weg zur Heilung und zur Transformation, sie trennt die Menschen voneinander, die Aussage „Du gehörst nicht dazu“. Und aus meiner Sicht ist diese Aussage kompletter Unsinn. Wir gehören dazu, wir sind eine Menschheit und gehören nicht nur zur Gruppe der Menschen, sondern auch zur Gruppe der Säugetiere. Und alle Säugetiere haben im Kern das gleiche Grundbedürfnis: Nämlich dazuzugehören! Das Körper-Geist-System möchte nichts weiter als dazuzugehören, um dadurch Sicherheit zu erfahren, um sich dann endlich entspannen und die Regenerations- und Transformationsprozesse ansteuern zu können.
Das heißt, dass dieser Satz verhindert, dass jemand den Weg der Heilung gehen kann. Es ist als ob die Türe zuginge – Zack! – aussichtslos … „Du gehörst nicht dazu.“ Doch, du gehörst dazu und wie du dazu gehörst! Und es ist das schönste, was es gibt – dazuzugehören und ein Gefühl dafür zu haben dazuzugehören. Es ist das, was uns biologisch stabil hält. Und wer das nicht glaubt, wer so erleuchtet ist, dass er das nicht glaubt, der soll sich mal zwei Monate in einem Zimmer einschließen ohne jeden Kontakt zu irgendeinem Menschen, ohne jeden Austausch und wenn er dann stabil rauskommt – ok, dann bist du an dem Punkt, für dich trifft das zu. Doch ich kenne keinen Menschen – mich eingeschlossen – der das überleben würde und da nicht komplett wahnsinnig rauskäme.
Wenn wir jetzt die traumatische Zange betrachten: In einer traumatischen Situation ist die Verbindung abgeschnitten, das ist, was biologisch passiert. In einem Trauma-Kontext habe ich keine Verbindung mehr, weder zu mir, noch zu anderen. „Du gehörst nicht dazu.“ Das sind Eindrücke, die im autonomen Nervensystem stattfinden, biologische Vorgänge. Die traumatische Zange bedeutet: Der Organismus stuft die Situation als lebensbedrohlich ein, kann aber nicht handeln. Lebensgefahr, nicht handeln können, so findet die Ladung (von Kampf und Flucht) keinen Weg und das System erstarrt. Das ist ein biologischer Zustand von festgehaltener Aktivierung und bedeutet nicht dazuzugehören. Deshalb ist das eine Aussage, die exakt einem traumatisierten Zustand entspricht.
Aussage 2: „Du kannst nichts machen“
Es kann auf der höchsten Ebene die Wahrheit sein, dass da niemand ist, der etwas macht, keine Trennung. Doch was macht das mit jemandem der sucht und leidet? Das kappt ebenfalls die Hauptressource, nämlich Handeln- und Gestalten-Können, Selbstwirksamkeit. Das zerstört die Selbstwirksamkeit. Die Ohnmacht die jemand erlebt, solange die Traumatisierung nicht gelöst ist, wird dadurch verstärkt und dadurch verbaue ich ebenfalls den Weg zur Transformation. „Du kannst nichts machen.“ Bist in einem Zustand von Lebensgefahr und Nicht-Handeln-Können. Und die Aussage zementiert diesen biologischen Zustand und das ist hochgradig gefährlich für Menschen, die sich noch nicht befreit haben, die immer noch in alten Kindheitskreisläufen festhängen. Handeln, Gestalten und das Bewusstsein darüber sind zentrale Elemente der Traumaheilung – dem Nervensystem zu vermitteln, dass man heute handeln kann. Das braucht teilweise großen Aufwand und wenn es ankommt, dann kommt es sofort zu einer physiologischen Veränderung, dann blühen die Menschen auf. Und solche Aussagen sind absolut zerstörerisch, weil sie den biologischen Zustand von Trauma zementieren.
Aussage 3: „Tue nichts, fühle es, sei einfach“
Das geht in die gleiche Richtung. Statt zu handeln, etwas zu tun um mein Leiden, mein Problem zu lösen soll ich das einfach fühlen. Das geht aber für jemanden, der traumatisiert ist gar nicht. Der kann das, in was er da festhängt, nicht einfach fühlen, das ist überfordernd für das System. Er muss zuerst durch Ressourcenbildung einen Rahmen, ein Containment erschaffen für das, was in seinem Inneren festgehalten ist. Das geht nicht und würde man es erzwingen so würde man das System destabiliseren. Und das Containment, der Rahmen von Ressourcen – den erschafft man durch handeln und Umstände ändern, neue Dinge ausprobieren. Das ist der wesentliche Punkt – Handeln.
Wenn ich also sage: „Tu nichts, fühle es einfach“ – das kann Menschen völlig an die Wand fahren. Wenn die das wirklich machen, dann kappen sie sich ja vom Verbunden-Sein und Handeln. Das, was da festhängt, kommt nach oben, das System hat keine Ressourcen um es zu integrieren und das Ergebnis reicht von Dysregulation, über Instabilität, bis hin zum Klinikaufenthalt.
Aussage 4: „Es gibt kein Ich“
Das ist quasi der Gipfel der fehlenden Selbstwirksamkeit – da fehlt gar das Ich, dass selbstwirksam sein könnte. Mag auf der höchsten Ebene so sein, doch was mache ich mit jemandem, dem ich das sage?
In einer traumatischen Situation gibt es in dem Sinn kein Ich, da bestimmte Areale im Gehirn offline sind, weil das System in einem biologischen Überlebenskampf steckt und das fühlt sich so an, als ob das Ich weg wäre. Die stabile Instanz von der aus das Leben erlebt wird – das ist das Gehirnareal des medialen Präfrontalkortex – der ist heruntergedimmt. Und auch noch andere Areale, die das Ich-Gefühl aufrechterhalten. Bessel van der Kolk hat das ausführlich beschrieben, er nannte das den „Irokesenschnitt des Selbstgewahrseins“.
Diese Hirnareale sind heruntergedimmt und deswegen verschwindet das Ichgefühl. Deshalb haben traumatisierte Menschen oft das Gefühl gar nicht zu existieren, sie wissen nicht was sie wollen, wo lang gehen – sie haben jegliches Gefühl für sich selbst verloren. Das sind physiologische Zustände. Diese Zustände, sind heute nicht mehr angemessen und werden mit solcherlei Aussagen jedoch bestätigt. Es sind also massiv dysregulierende und zerstörerische Aussagen.
Aussage 5: „Du hast keine Kontrolle“
Das geht in dieselbe Richtung. Da ist das Ich wenigstens noch da, doch es kann nichts machen. Wie ist das in der traumatischen Zange? Da ist Lebensgefahr, doch ich kann nicht handeln, bin ohnmächtig, habe keine Kontrolle. Dasselbe Spiel – ich zementiere den Traumazustand, bestätige dem System, dass es immer noch in der traumatischen Zange ist, statt zu vermitteln, dass es handeln muss und die Situation, in der das Nervensystem feststeckt, nicht mehr da ist. Also genau das Gegenteil.
Aussage 6: „Alles ist eins“
Geht in die gleiche Richtung. Wenn alles eins ist, wo bin ich dann? Kann ich irgendetwas machen? Alles ist eins, dann ist ja sowieso alles egal …
Aussage 7: „Es gibt nur diesen Moment“
Wie ist das in einer traumatischen Situation? Da geht das Zeit-Kontinuum verloren. Manchmal verliert man auch die Orientierung im Raum, doch im Wesentlichen geht das Zeit-Kontinuum verloren. Da ist immer nur dieser Moment. Wenn ich unter Lebensgefahr bin und um mein Leben rennen muss oder unter Lebensgefahr, dann gibt es immer nur diesen Moment. Es macht biologisch keinen Sinn, das Gehirnareal, das für das Zeit-Kontinuum zuständig ist online zu halten. Es ist in solch einer Situation offline, heruntergedimmt. Deshalb fällt es traumatisierten Menschen auch so schwer zu planen, strukturiert vorzugehen, langfristige Pläne zu machen, usw.
Es kann sein, dass das die absolute Wahrheit ist, doch jemand der traumatisiert ist und das hört bekommt seinen biologischen Zustand bestätigt. Und der baut das dann ein, es fühlt sich kohärent und stimmig an, derjenige erlebt das so. Es ist aber das Gegenteil von dem, was er braucht. Zur Regulation führt, das Zeit-Kontinuum wieder in Gang zu setzen. Das ist z. B. ersichtlich, wenn man bei Ängsten oder Panik sich mit Terminplanung in der Zukunft beschäftigt. Da werden die Ängste sofort weniger. Die Aussage ist also absolut kontraproduktiv.
Aussage 8: „Der Verstand ist das Problem“
Der Verstand ist nicht das Problem. Der mediale Präfontalkortex ist die Insel von der aus wir leben, von der aus wir integrieren. Die hohe Ladung im Körper ist das Problem, die den Verstand immer wieder rasen lässt und die Identifizierung damit festhält. Ich kann das nicht Top-Down abstellen, ich kann keinem rasenden Verstand sagen: „Geh jetzt mal in die Stille.“ Ich muss die Ladung darunter lösen, die das von unten immer wieder hochfährt. Der Verstand ist nicht das Problem – im Gegenteil, wenn ich ihn konzentriert einsetze kann das zu einer Stabilisierung führen und eine Überflutung beenden. Das ist auch die Hauptmethode wie man eine Überflutung beendet und stabilisiert: Indem man den Präfontalkortex wieder anspricht, indem man jemanden eine Rechenaufgabe gibt oder fragt woher er kommt.
Aussage 9: „Es gibt nichts zu erreichen“
Eine weitere Aussage, die jemanden komplett entkräften kann. Mit anderen Worten: „Gib auf, lass es, du kommst eh nicht raus aus deinem Leiden.“ Wie jemanden der am Ertrinken ist zu sagen: „Es gibt nichts zu erreichen.“ Das kappt die Ressourcen – Handeln-Können, Zeit-Kontinuum, Verbindung, Körpergefühl, etc. Das sind alles Aussagen, die die Ressourcen kappen und den Menschen von der Transformation abbringen. Und natürlich fühlt es sich für jemanden der traumatisiert ist stimmig und kohärent an, es matcht. Ist aber genau das Gegenteil von dem, was er hören muss. Das Nervensystem eines traumatisierten Menschen braucht von außen die Information, dass es einen Weg in einen anderen physiologischen Zustand gibt. Das System selbst glaubt das nicht, weil es die Erfahrung gemacht hat, dass es nicht möglich war. Deswegen ist es schwierig diese Informationen in das System zu bekommen und deswegen wehrt sich das System auf eine Art auch dagegen. Es ist also für den Therapeuten nicht so einfach diese Informationen in den tiefen Schichten anzubringen. Doch wenn ich das Gegenteil mache und sage, dass es nichts zu erreichen gibt, dann ist die Sache schon erledigt bevor sie angefangen hat.
Fazit
Mit diesen Aussagen muss man also sehr vorsichtig sein. Ich behaupte, dass es für die meisten Menschen auf dem spirituellen Weg kontraproduktiv ist. Die Frage ist auch, was man damit erreichen will. Warum belästigt man die Menschen mit solchen Aussagen? Vielleicht sollte man einfach mal prüfen, ob das denn zum Ziel führt. Führt das zur Transformation oder nicht? Vielleicht die Menschen mal fragen.
Ich sehe, dass viele Lehrer die Menschen voneinander trennen und das ist absolut verheerend, absolut zerstörerisch. Die Menschen auf sich zurückzuwerfen, sie voneinander zu trennen und dann noch mit Aussagen von Nicht-Vorhanden-Sein und Ohnmacht zu belasten. Das ist etwas womit ich aufräumen möchte. Das ist einfach nicht der Weg. Unsere Biologie braucht etwas anderes und wir müssen zuerst an unserer Biologie ansetzen. Wenn diese reguliert ist, dann können wir uns über Meditation oder sonst was unterhalten. Aber solange diese Regulation nicht stattgefunden hat und wir nicht untereinander in Verbindung treten können, solange brauchen wir uns damit nicht beschäftigen, es hilft uns nicht, sondern zementiert die Trennung. Es führt nicht zur Einheit, sondern zementiert die Erfahrung von Trennung und den dazugehörigen physiologischen Zustand. Wir müssen die Menschen wieder zusammenbringen. Alle die lehren müssen dafür sorgen, dass die Menschen zueinanderfinden und dass die eigene Rolle als Lehrer möglichst schnell in den Hintergrund tritt. Dieses Zusammenbringen und dieser Austausch führen dazu, dass die Systeme zur Ruhe kommen und dann kann man meinetwegen mal so eine Aussage machen und auf dieser Ebene arbeiten. Aber im Wesentlichen landen die Nervensysteme in meditativen Zuständen – in der Ruhe und im Frieden – wenn sie reguliert sind. Und dann wird das, was darüber hinausgeht, spürbar. Doch der umgekehrte Weg mit diesen abstrakten Aussagen Menschen helfen zu wollen – das funktioniert nicht, die Biologie braucht etwas anderes. Die Biologie braucht zuerst Sicherheit, nicht Erleuchtung. Die Biologie interessiert sich nicht für Erleuchtung. Wenn die Biologie zur Ruhe gebracht wurde, dann ist der Raum frei, also warum nicht so ansetzen – ist doch viel einfacher für alle Beteiligten.
Wenn du dich darin wiederfindest – egal ob als Lehrer, als Sucher, als Schüler – du kannst dich über die Zusammenhänge von Selbstgewahrsein, Trauma, Hirnareale und Neurophysiologie informieren. Da wirst du interessante Dinge in Erfahrung bringen. Die Informationen sind alle im Netz, in Büchern … kannst du alles nachlesen.