Was bin ich?
Seit vielen tausenden Jahren war es in der riesigen Kathedrale absolut still. Niemand hatte sie je betreten. Es war nichts zu hören, weder der Wind draußen, noch der Regen, noch die Vögel. Sie war uralt die Kirche, so alt dass niemand wusste wie alt sie eigentlich wirklich war. Vielleicht war sie auch schon immer da gewesen, wer weiß?
Die Sonne schien durch die wunderschönen, bunten Kirchenfenster und warf ein Muster aus Farben auf den Marmorboden. Die Kathedrale war riesig in ihren Ausmaßen. Die Decke war so hoch, dass man die Gemälde kaum erkennen konnte. Und sie war absolut leer, keinerlei Gegenstände waren darin. Es gab nur den Boden, die Säulen und die Wände.
Sie war in erster Linie Raum. Raum der greifbar und erfahrbar erschien, dadurch dass er durch die hohen Mauern begrenzt wurde. Man spürte die Weite. Alles war absolut still und regunglos seit undenkbaren Zeiten.
Eines Tages jedoch schien es, als ob sich der Raum irgendwie veränderte, als ob eine ganz leichte, winzige Welle, eine Regung durch diesen riesigen Raum ging. Diese Welle war wie eine leichte Spannung, ein Zusammenziehen welches an Intensität zunahm. Der Raum schien lebendig zu werden, wie ein Wesen welches aus einem langen Schlaf erwachte. Der Raum wurde immer wacher und bewusster, er regte sich immer weiter, bis er sich schließlich seiner selbst bewusst wurde und ganz langsam Gedanken darin formte: „Wer bin ich?“, „Was bin ich?“. Mit diesen Gedanken weckte er sich noch weiter aus seinem tiefen Schlaf auf, bis es schließlich als Worte im Raum erklang: „Wer bin ich?“, „Was bin ich?“.
Es hallte durch die ganze Kathedrale und bildete ein Echo, was nach und nach wieder schwächer wurde. Noch viele viele Male erklangen diese Fragen im Raum und immer kam nur das eigene Echo als Antwort.
Irgendwann wurde es ermüdend diese Gedanken und diese Worte zu formen und es kam sowieso immer nur das Echo zurück. Schließlich gab er auf. Das letzte Echo der Frage klang aus, bis es wieder ganz still wurde. Der Raum entspannte sich wieder und er glitt auseinander, zurück in seine eigene Weite hinein. Dann war es wieder absolut still wie vorher. Nichts bewegte sich mehr, nichts war jemals wieder in dieser wunderbaren Kirche zu hören. Absolute, erhabene Stille, bis in alle Ewigkeit…