Trauma-Patienten im Satsang
Von der Suche nach Heilung
Ich selbst habe fast 10 Jahre im Satsang und in der Spiritualität nach Heilung von emotionalem Leiden gesucht, vergeblich. Mir wurden dort transzendente Erfahrungen und Ekstasen zuteil, für die ich sehr dankbar bin. Trotzdem hat mir das ganze nicht geholfen mein Leiden aufzulösen. Mein Leben war in weiten Teilen ein Elendszustand, über den ich keine Kontrolle hatte. Nach jedem Meditations-Retreat dauerte es nur wenige Tage bis die Hölle wieder über mich hereinbrach.
Ich fand dann irgendwann eine Heilpraktikerin, die Gestalttherapie und Traumatherapie anbot. Nach nur einem Jahr war die Kernproblematik meines Lebens und das damit verbundene Leiden verstanden und weitestgehend aufgelöst. In dem Moment wo ich von den Begriffen Entwicklungstrauma und Bindungstrauma erfuhr, wusste ich sofort, das ist es! Endlich hatte das namenlose Leiden einen Namen. Die Problematik war bekannt, weitgehend erforscht und es gab einen Weg zurück ins Leben.
Die Lösung habe ich also bei jemandem gefunden, dem es überhaupt nicht um Spiritualität ging. In keiner einzigen Sitzung ging es explizit um dieses Thema, sondern es ging immer um körperliche Auswirkungen von Trauma und vor allem um Beziehungen. Dies war genau das Gegenteil von dem was ich im Satsang hörte. Dort erfährt man in der Regel „dass da niemand ist“, „dass man es einfach nur zu fühlen braucht“ oder „dass Beziehung eine Illusion ist“.
Das Problem war aber, dass die Basis in meinem äußeren Leben und in meinem Nervensystem durch traumatische Kindheitserfahrungen noch gar nicht vorhanden war. Man kann ja nur Gefühle integrieren wenn man sozusagen eine „Insel“ hat von der aus man dies tun kann. Wenn ich jedoch seit frühester Kindheit z.B. in Einsamkeit und Bindungslosigkeit feststecke und daher noch gar nichts anderes kenne!!! Wie und von wo soll ich dann dieses traumatische Muster integrieren und heilen können?! Das kann nicht funktionieren mit „einfach fühlen“. Ein Ertrinkender kann sich nicht den Ozean anschauen.
Zuerst muss das autonome Nervensystem beruhigt werden und gleichzeitig eine Beziehungsbasis geschaffen werden in der man das Gegenteil erfährt. Dadurch lernt das ganze System, dass es auch anders geht. Es gilt Mittel und Wege zu lernen, um das Nervensystem vorsichtig aus seinem Traumazustand zu befreien. Erst dann kann ich mich solchen Dingen erneut stellen. Und das geht nun einmal nur mit einem geeigneten Therapeuten oder Heiler, der diese Dinge kennt und versteht. Wer sich als Betroffener einem spirituellen Lehrer anvertraut, der noch nie etwas von Bindungsstörung und den physiologischen Grundlagen von Traumatisierung gehört hat, braucht sich nicht wundern wenn das ganze in einem Desaster endet! Ich spreche aus eigener leidvoller Erfahrung.
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Ich lebte also fast ununterbrochen in Dissoziation und Depression. Ein Zustand inneren Erstarrens, völliger emotionaler Taubheit, Weggedriftetseins. Man fühlt sich dabei gleichzeitig unter Strom und wie betäubt.
Zunächst klärte mich meine Therapeutin über diesen Zustand auf, was er bedeutet, woher er herrührte, dass es ein „normaler“ Mechanismus ist um mit überwältigenden Erfahrungen klarzukommen. Das Nervensystem geht in einen Freeze (Erstarrung) um überlebensfähig zu bleiben und nutzt in erster Linie Gehirnareale die sehr früh in der Evolution entstanden. Wie die Arbeiten von Peter Levine und David Berceli zeigen ist Trauma ob physisch oder psychisch in erster Linie eine Sache des physischen Körpers und seines Nervensystems: Das war also der erste wichtige Schritt, das Verständnis für die eigene Situation, für den eigenen Zustand. Ich verstand warum ich mir kaum etwas merken konnte, warum ich nichts richtig mitbekam, an nichts Interesse hatte, ständig Angst hatte etc. Dieses Verständis war hilfreich und stabilisierend. Bis dahin glaubte ich, das wäre ein Zustand der bei mir einmalig war.
Nach und nach wurde mir bewusst dass mein Nervensystem in Kindheitserfahrungen „fest hing“. Im Laufe des Jahres führte mich die Therapie erlebnismäßig in meine aktuelle Lebenszeit und mit dieser Stabilisierung konnten dann nach und nach die Erfahrungen zeitlich in meiner Kindheit eingeordnet werden, statt sie immer wieder (unbewusst) als aktuell und real zu erleben. Das Ganze war weder besonders anstrengend, noch schwierig, noch karthatisch. Nachdem diese Entwicklung und Heilung stattgefunden hatte, gelingt nun auch die Meditation viel leichter, da der Verstand nicht mehr rasen muss um die Gefühlsabspaltung aufrecht zu erhalten.
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Wenn ich die Besucher in Satsangs und Meditationsgruppen beobachte dann habe ich das Gefühl, dass dort viele entwicklungstraumatisierte Menschen sind. Sie suchen in der Spiritualität Erlösung und Hilfe. Möglicherweise finden sie sie aber dort eben genau nicht, weil es im Satsang und in der Meditation um etwas anderes geht. Die spirituellen Methoden zielen darauf ab, die Persönlichkeit und das eigene Leben zu transzendieren. Sie zeigen auf das was jenseits unserer Gedanken, Gefühle
und unseres Körpers ist. Daran ist nichts verkehrt, nur wie soll jemand dahinschauen können, der große Leidenszustände erfährt und in unbewussten Überlebenskämpfen aus frühester Kindheit steckt?
Die Tendenz ist, sich anfangs einen Weg auszusuchen, der das eigene Muster nicht auflöst sondern noch weiter zementiert.
Ich kann nur jedem empfehlen, der das Gefühl hat in der Spiritualität festzustecken und nicht weiterzukommen unbedingt sich mit dem Thema Traumatherapie zu beschäftigen. Das gilt besonders für Menschen mit Bindungsstörungen. Für diese kann Satsang, Meditation und Spiritualität zur Sackgasse werden.
Wer nicht beziehungsfähig ist und z.B. aus Angst vor Nähe und vor Abhängigkeit Rückzug als Schutzmechanismus einsetzt wird in der spirituellen Szene unter Umständen noch zusätzlich dazu ermutigt, statt in Kontakt zu gehen und den alten Mechanismus zu überwinden. Dazu braucht es aber einen therapeutischen Rahmen, der dafür geeignet ist. Ich behaupte, dass es kein Ende des Leidens gibt solange man nicht beziehungsfähig geworden ist.
Natürlich kann es in seltenen Fällen passieren dass jemand erwacht und komplett frei ist von der Identifikation mit den Mind-Strukturen. Erwacht bin ich wohl nicht, aber ich habe mein Leben zurück und der Schatten meiner Kindheit hat deutlich weniger Gewalt über mich. Auf dieser Basis kann ich mich nun entspannt auf die Meditation einlassen und immer mehr Gefühle integrieren. Somit gibt es auch keine Spaltung mehr zwischen Alltag und Spiritualität, da das Leiden im Alltag weitgehend aufgelöst wurde. Das Bedürfnis nach Erleuchtung um dem Leiden zu entfliehen verschwindet ebenfalls.
Aber selbst vollständiges Erwachen, tiefe Realisation und Erleuchtung bedeuten nicht, dass die Traumaprägungen dadurch verschwinden! Genauso wenig verschwindet ein Beinbruch durch Erleuchtung. Ich kenne persönlich erleuchtete Menschen, die als Satsang-Lehrer tätig sind und gleichzeitig für sich selbst Traumatherapie in großem Umfang in Anspruch nehmen.
Spiritualität zielt auf die absolute Wahrheit, ja. Es spricht nichts dagegen, ich bin selber ein Satsangbesucher. Aber vielleicht muss man parallel noch an anderer Stelle arbeiten. Ich habe bisher nur in sehr seltenen Einzelfällen erfahren, dass ein Satsang-Lehrer jemandem geraten hat zusätzlich eine Traumatherapie zu machen. Das finde ich sehr schade, würde es doch aus meiner Sicht bei vielen den Leidensweg abkürzen. Die Lösung muss auf der Ebene gesucht werden wo sich das Leiden befindet. Wenn ich einen Rohrbruch im Keller habe, dann gehe ich ja auch nicht zu einem Schornsteinfeger.
Abschließend möchte ich noch darauf hinweisen, dass auch konventionelle psychotherapeutische Verfahren wie Psychoanalyse, Gesprächstherapie und Verhaltenstherapie den Kern der Problematik nicht treffen und für viele traumatisierte Menschen kaum hilfreich sind. In meinem Fall hatte eine Verhaltentherapie sogar Schaden angerichtet, da Symptome verschoben und verschleiert wurden. Gestalttherapie und Traumatherapie sind stattdessen die Stichworte nach denen man Ausschau halten sollte.
Bei Menschen aus dem spirituellen Umfeld ist es außerdem notwendig, dass der entsprechende Therapeut die spirituelle Dimension zumindest anerkennt und respektiert. Er braucht selbst keine Erfahrung damit zu haben. Aber für den Behandlungserfolg muss diese Ebene zu der der Klient Zugang hat geachtet werden. Es kommt öfters vor, dass man Traumafolgesymptome und spirituelle Zugänge gleichzeitig antrifft. Meist können diese Ebenen von den Betroffenen nicht unterschieden werden und es kommt zu großer Konfusion. Hier gilt es ganz besonders sorgfältig die Ebenen zu trennen und entsprechend differenziert vorzugehen. Z.B. kann
das was man als Hochsensibilität bezeichnet von beiden Ebenen gespeist werden.
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All das müsste nicht sein, wenn sich…
- Spirituelle Lehrer mit dem Thema Trauma und den neurologischen Auswirkungen auseinandersetzen und sich entsprechend ausbilden lassen, um betroffene Menschen zu erkennen.
- Mediziner und Psychologen sich der spirituellen Dimension öffnen. Pflichtlektüre für diese Berufsgruppe wäre „Kollision mit der Unendlichkeit“ von Suzanne Segal.
- Sucher und Betroffene in ihre Eigenverantwortung gehen und selbst recherchieren, um sich über ihre Situation klar zu werden, statt die Verantwortung blind an spirituelle Lehrer oder psychiatrische Einrichtungen abzugeben.
Zwei dazu passende Textstellen aus dem herausragenden Buch „Entwicklungstrauma heilen“ von Laurence Heller und Aline Lapierre:
„Der NARM™-Ansatz besagt, dass der unmittelbarste Zugang zu spirituellen Dimensionen über ein reguliertes physiologisches System führt.“
„Jedes System der Selbsterforschung, das Traumen und Bindungsthemen samt der aus ihnen resultierenden funktionellen Störung des Nervensystems nicht berücksichtigt, birgt für die Praktizierenden die Gefahr von Dysregulation und Retraumatisierung.“
Ich würde sogar noch weiter gehen und behaupte: Die spirituelle Dimension öffnet sich automatisch sobald das Nervensystem grundlegend beruhigt wurde und wir uns auf Beziehungen einlassen können. Umgekehrt funktioniert es nicht: Der Versuch die Tore zur Spiritualität „gewaltsam“ zu öffnen, um damit Leiden durch Traumaprägungen zu erlösen. Das ist aber leider das, was viele versuchen und was die implizite Botschaft der meisten spirituellen Lehrer ist.
Noch einmal ganz deutlich: Ich habe nichts gegen Spiritualität, und auch nichts gegen Psychotherapie und Psychiatrie. Worum es mir geht ist, aufzuklären wo für traumatisierte Menschen die beste Hilfe zu finden ist.
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Es wäre schön, wenn eines Tages alle Ärzte, Heiler, Therapeuten und spirituellen Lehrer zusammenarbeiten würden. Bei Fragen zum Thema und zur Orientierung im immer größer werdenden therapeutisch/spirituellen Angebot in dieser Welt stehe ich gerne zur Verfügung.