Die vielen Gedanken sind das Problem, oder doch nicht?
Wenn ich mir Satsang-Lehrer anhöre wie Eckhardt Tolle, Mooji, Samarpan, Papaji, usw.. Sie sagen: „Bleibe hier, sei achtsam, stay in this moment, folge nicht den Gedanken, be silent.“ Sie sagen, dass der Verstand mit seinen rasenden Gedanken das Problem ist und wir nur immer wieder zurück in diesen Moment kommen brauchen, den Verstand beiseite lassen.
Warum ist das so schwer, warum gelingt das nicht wirklich oder nicht vielen? Warum rast der Verstand und trägt uns immer wieder davon, warum identifizieren wir uns mit dem Inhalt von Gedanken und Gefühlen statt einfach im Moment zu bleiben und erleuchtet zu sein? Wenn der Geist still ist fließt die Energie in den Zentralkanal, ist doch alles ganz einfach oder?
Ich glaube, dass viele spirituelle Lehrer die Situation der heutigen Menschen mit unserem „normalen“ Geisteszustand nicht wirklich verstehen.
Alles hat eine Ursache und somit kann doch auch ein unruhiger Geist nicht ohne Ursache existieren. Es muss einen Grund geben für ununterbrochene Gedankenaktivität und die Identifikation damit.
Die Ursache, das eigentliche „Problem“ sind nicht die vielen Gedanken oder dass die Energie im Mentalen gebunden ist. Sondern das wirkliche Problem an der Basis ist ein dysreguliertes Nervensystem und als *Folge* ein unruhiger Geist. Es handelt sich um einen hohen Erregungslevel im autonomen oder sogar zentralen Nervensystem. Das ist die eigentliche Ursache für einen Geist der nie zur Ruhe kommt. Die geistige Unruhe hat eine körperliche(!) Basis. Und diese körperliche Basis ist eine traumabedingte Endlosschleife von Übererregung, die sich eben nicht von alleine auflösen lässt. Sondern sie erfordert spezielle Maßnahmen und tiefgehendes Verständnis über die neurophysiologischen Vorgänge. Der Körper kann sich alleine daraus nicht befreien.
Der Geist muss rasen als Schutz vor überwältigenden, nicht verarbeiteten Eindrücken und es ist der Versuch des Neocortex eine Lösung für die hohe Erregung in den tieferen Nervensystemschichten zu finden.
Wie kommt es zu dieser Dysregulation? Die Antwort ist durch Traumatisierung und das sind letztlich die meisten von uns. Es geht nicht nur um ein einzelnes Schocktrauma, wir sind eigentlich eine entwicklungstraumatisierte Gesellschaft. Und das sind nicht immer die offensichtlich schlimmen Dinge durch die das geschieht, sondern das kann auch schlicht emotionale Vernachlässigung in der Kindheit sein. Wenn wir das einmal erkennen, dass wir eine kollektiv bindungstraumatisierte Gesellschaft sind, die sich nur noch mit übermäßiger Selbstmedikation (Alkohol, Kakao, Tabak, Koffein, Teein, Fleisch, Zucker) und ununterbrochener mentaler Ablenkung zusammenhält, wäre das der Beginn einer Veränderung. Meine Sicht der Welt heute ist, dass alles was wir im Außen sehen der verzweifelte Versuch ist unsere Nervensysteme zu regulieren. Ich sehe es tatsächlich so, denn wären wir innerlich ruhig, wäre auch die Welt ruhig und friedlich. Wir versuchen uns zu entladen um endlich tiefe Entspannung zu erfahren und rasen und rasen und rasen, innerlich und äußerlich.
Kommen wir zurück zu den Anweisungen der Satsang-Lehrer… Die Anweisung lasse den Verstand ruhig werden oder identifiziere dich nicht damit oder meditiere, ist letztlich ein Top-Down-Ansatz. Der Versuch über äußere Vorgänge Einfluss auf das autonome und zentrale Nervensystem zu nehmen. Dies gelingt wenn überhaupt nur zeitweilig während der Übung, während der Meditation. Danach läuft die Traumaerregungsschleife unberührt weiter, diese stellt die hohe Erregung wieder her und in der Folge die vielen Gedanken. Übrigens fast die gesamte Selbsthilfeliteratur beschreibt Top-Down-Ansätze die natürlich wie wir alle wissen nicht grundlegend funktionieren, sonst hätte wir die meisten Probleme und Leiden bereits aufgelöst.
Was gebraucht wird ist primär ein Bottom-Up-Ansatz. Das ist da wo alle moderne Traumatherapie ansetzt. Es wird *direkt* an der Regulation und Entladung des Nervensystems gearbeitet und als Folge kommt der ganze Organismus einschließlich Geist grundlegend zur Ruhe. Da die Regulation dabei vom autonomen Nervensystem *selbst* gemacht wird, wird die Traumaerregungsschleife durchbrochen. Es handelt sich bei dieser Entladung um einen natürlichen, uns genetisch
mitgelieferten Prozess, der allerdings spezielle Maßnahmen bei uns Menschen erfordert um wieder freigesetzt zu werden. Das passiert nicht wenn ich von außen einwirke z.B. durch Meditation oder Massagen.
Insofern ist es nicht verwunderlich wenn jemand jahrelang oder gar jahrzehnte meditiert und der Geist immer noch rast. Meditation ist keine Traumaheilung. Letzteres ist aber das was meiner Ansicht nach die meisten vorrangig brauchen.
Mit der Regulation des Nervensystems kommen spirituelle Erfahrungen von alleine, als automatische Folgeerscheinung, das ist meine persönliche Erfahrung, bei mir selbst und ich sehe es bei meinen Klienten. Wer ein in der Tiefe entspanntes Nervensystem hat sucht nicht mehr, er erlebt Frieden, oft sogar Ekstase. Stille im Geist ist unser natürlicher Zustand!
Interessant hierzu ein Zitat von OSHO zu seiner eigenen Erleuchtung: „Es geschah, als ich in einem Zustand völliger Entspannung war, es geschieht immer in diesem Zustand.“
Selbst weithin bekannte Satsanglehrer die vielleicht Jahrzehnte an Erfahrung mit Innenschau und Desidentifikation haben, beharren aber leider auf ihrer simplen Anweisung, einfach hier zu sein, nur zu fühlen, egal was das für katastrophale Konsequenzen für ihre Schüler hat. Die Bandbreite reicht dabei von jahrelanger qualvoller Suche mit wenig oder keiner Erleichterung bis hin zur Einweisung in die Psychiatrie.
Solche Geschichten darf ich mir regelmäßig von Betroffenen anhören, es sind keine Einzelfälle. Wenn jemand Hilfe möchte ist das erste was ich tue immer die Aufklärung über die zuvor beschriebenen Zusammenhänge. Viele die zu mir kommen haben jahrelange konventionelle Psychotherapien und spirituelle Methoden hinter sich und haben kaum oder keine Erleichterung erfahren.
Erst auf der körperlichen Basis eines beruhigten autonomen Nervensystems, wird das Social Engagement System wieder aktiv und nur dann kann ich mit jemandem auf höherer Ebene wie Gefühle, Beziehungsmuster und Glaubenssätze arbeiten. Und dann ist auch der Weg frei für Meditation. Meditation *beginnt* erst wenn der Geist still ist, dann geht es überhaupt erst los…
Spiritualität und Traumaheilung müssen endlich zusammenfinden, in Form entsprechend ausgebildeter spiritueller Lehrer und medizinischem Personal was tiefergehende Erfahrungen mit Meditation hat. Ich bin zuversichtlich dass dies geschehen wird, denn heute mit der globalen Kommunikation kann sich nichts mehr halten was nicht funktioniert.
Ich bin auch sehr interessiert an Erfahrungsberichten jedweder Art, insbesondere auch über das, was für dich funktioniert hat, egal aus welchem Bereich.