Strukturbasierte vs. prozessorientierte Traumaarbeit
Was ist der Unterschied? Meine Definition von beiden unterschiedlichen Vorgehensweisen hat sich auf Grund meiner Erfahrungen mit Klienten gebildet. Im ersten Fall geht es um Überleben und Stabilisierung, im zweiten um Kontakt und Gefühle. Ich erkannte, dass es Menschen gibt, mit denen zu Beginn einer Therapie noch keine lösungsorientierte prozessbasierte Traumaarbeit möglich ist. Ganz im Gegenteil, es besteht hier die absolute Notwendigkeit zunächst Notlösungen im Sinne des Überlebens zu etablieren, um überhaupt irgendeine Form von innerer Stabilität zu ermöglichen. Solche Klienten berichten durchgehend, dass sie bereits mit wenig Kontakt zu anderen Menschen (inkl. mir als Therapeuten) genauso völlig überfordert sind wie mit Phasen des Alleinseins. Sie haben wenig bis keine Ressourcen und werden praktisch in allen Alltagssituationen mit Menschen durch nicht integriertes Traumamaterial überflutet oder geraten in Erstarrung und Dissoziation.
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Analogie, um den Unterschied zwischen beiden Situationen zu beschreiben:
Jemand kann nicht schwimmen und ist am Ertrinken, er schreit um Hilfe => zunächst strukturbasierte Arbeit, Notlösung erforderlich: Ich biete dem Menschen meine Hand oder werfe ihm einen Rettungsring zu, mit dem er sich an Land ziehen kann und überlebt. Ich versuche nicht, ihm Schwimmen und die Schönheit des Ozeans beizubringen.
Jemand kann schwimmen, kämpft aber überall! mit angeblich gefährlichen Fischen und angeblich übermächtigen Strömungen => prozessbasierte Arbeit, Lösung möglich: Ich helfe zu erkennen, dass die meisten Fische in Wirklichkeit ungefährlich sind und ein Kontakt möglich ist. Was die Strömungen angeht, versuche ich zu vermitteln, dass man jederzeit auch eine andere Richtung einschlagen oder sich auch mal treiben lassen kann. Ich helfe außerdem zu erkennen, wann es wirklich gefährlich ist und wie dann vorzugehen ist. Dies alles führt zur Fähigkeit sich situationsadäquat! im Ozean zu bewegen und automatisch zur Erkenntnis, wie schön und wunderbar der Ozean eigentlich ist.
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Bei strukturbasierter Traumaarbeit, also wo es noch ums Überleben geht, ist es notwendig vor allem in sozialen Situationen, bei der Begegnung mit Menschen im Alltag und auch auf Beziehungsebene zunächst zu lernen, wie man sich aus der Überforderung stabilisieren und wie man sich schützen kann. Das, was bei prozessorientierter Arbeit später überwunden werden muss, ist hier überhaupt erst einmal zu erlernen: eine oder mehrere der 4 Varianten von Defensivreaktionen: Angreifen, Weggehen, Ignorieren, Manipulieren. Erst wenn jemand in diesem Sinne gelernt hat sich zu schützen, entsteht überhaupt erst eine Form von innerer Stabilität, eine Insel von „ich“. Hier geht es darum zu lernen, sich vor zuviel Kontakt und vor eigenen Gefühlen zu schützen, sprich psychisch zu „überleben“. Menschen mit dieser inneren Konstellation erleben auch immer eine große Orientierungslosigkeit! Sie können oft kaum beschreiben was eigentlich ihr Problem ist.
Im Gegensatz dazu (prozessorientierte Traumaarbeit): Menschen, die Formen dieser Notlösungen als Kind etablieren konnten brauchen Unterstützung, diese nun statt auszuleben bzw. auszuagieren in die Kommunikation zu bringen. Hier geht es darum, wirklichen Kontakt herzustellen, in dem man beginnt vor allem die Kernemotionen (Wut und Trauer) mitzuteilen, sprich beginnt zu leben, statt nur zu überleben. Menschen mit dieser inneren Konstellation können meist beschreiben was aus ihrer Sicht das Problem ist, worunter sie leiden, was sie geändert oder weghaben wollen. Sie können also in der Regel ihr Symptom benennen, verstehen jedoch die eigentliche tieferliegende Ursache in ihren Bindungsmustern nicht.
Praktisch sieht das so aus, dass ich z.B. im ersten Fall (Strukturaufbau) jemandem erkläre, wie er aus einer Gesellschaft, in der er sich unwohl fühlt, kommentarlos aufsteht und weggeht. Im zweiten Fall (Prozessarbeit) erkläre ich jemandem, wie er z.B. Wut in der Partnerschaft einfach nur mitteilt, statt Teller zu werfen und helfe ihm zu einer Erfahrung von mehr Sicherheit im Kontakt.
Wenn ich als Therapeut nicht erkenne, dass jemand zunächst strukturbasierte Arbeit braucht, weil noch keine stabile Insel vorhanden ist, auf der Kontakt und Prozesse stattfinden können, bleibt die Therapie weitgehend wirkungslos. Strukturaufbau muss letztlich immer in Einzelsitzungen stattfinden, da Gruppen eine völlige Überforderung darstellen würden.
Klienten, die von anderen Therapeuten zu mir geschickt werden und schon viele Therapien mehr oder weniger erfolglos durch haben, entsprechen nahezu alle dem folgenden Schema:
- Hochintelligent
- Hoher Selbst-Reflexionsgrad, trotzdem große Orientierungslosigkeit, kein Kontext, versteht nicht warum/worunter er genau leidet
- Energie im Kopf (Gedanken) oder im Körper (Symptome, Krankheiten) gebunden
- Wenig bis kein Struktur vorhanden
- Kämpft ums Überleben, wird aber nicht verstanden (Therapeut fällt auf den hohen Abstraktionsgrad in der Kommunikation rein, scheinbar erwachsen, versteht aber die Überlebensnot dahinter nicht bzw. weiß nicht wie damit umzugehen ist)
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Wie erkenne ich als Therapeut an welcher Stelle sich ein Klient befindet?
Fehlende Struktur: Arbeit auf Kontakt-, Gefühls- und Dialogebene führt zu keiner Veränderung oder wird gänzlich abgwehrt. Einsichten und Erkenntnisse führen ebenfalls zu keiner Veränderung. Ein mehr an Kontakt führt nicht zu Integration und mehr Lebendigkeit, sondern zu noch weiterer Destabilisierung. Oft erleben Therapeuten an dieser Stelle eine große Hilflosigkeit und Orientierungslosigkeit. Es kann sich anfühlen als hätte man ein schreiendes Baby vor sich und man weiß nicht was es braucht: Hilf mir aber lass mich in Ruhe!!! Das Entscheidende hier ist, dass man *versteht* in welcher Not der Körper ist und worauf sich diese Not bezieht: Fehlender Schutz und fehlende Bindung gleichzeitig.
Vorhandene Struktur: Klient ist unter Anleitung und Kontext bereit, sich mehr Kontakt und damit mehr seiner Gefühle auszusetzen. Das mehr an Kontakt führt zu Prozessen von Integration und somit zu mehr Lebendigkeit und Lebensfreude.
Die Vorgehensweise im Detail zu beschreiben würde den Rahmen dieses Artikels sprengen. Ich empfehle vor allem meine Online-Veranstaltung „Gespräche mit Gopal“, sowie meine Videos, Bücher und meine Fortbildung „Traumatherapie mit FLOATING“. FLOATING ist eine prozessorientierte Traumatherapie-Methode, die in Gruppen stattfindet.
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Siehe auch: